Ein Lautsprecher, der nicht in ein Gehäuse eingebaut ist, kann keinen Bass wiedergeben. Das wird gern behauptet. Schuld daran sei der akustische Kurzschluss: Der Überdruck, den die Membran beim Nach-vorn-Schnellen vor dem Chassis erzeugt, werde sofort vom Unterdruck ausgeglichen, den die Membran gleichzeitig auf der Rückseite des Chassis erzeugt. Das entsprechend umgekehrte gelte natürlich auch bei der Membranbewegung in entgegengesetzte Richtung. Eine Druckwelle in den Raum (=Schall) entstände dabei nicht.
Wellen, die sich - wie der Schall - frei in den Raum ausdehnen, kennen solch einen Ausgleich nicht. Man kann sie nicht "zurückholen", wenn sie sich einmal fortbewegt haben.
Abb. 1.1: Modell der Lautsprechermembran als Scheibe mit je einer Punktquelle auf der Vorder- und Rückseite
Während sich die Membran vor- und zurückbewegt, wandern Druckschwankungen im gleichen Takt radial in den Raum und erzeugen damit einen Ton. Wir betrachten das Verhalten des Lautsprechers für drei unterschiedliche Fälle und aus zwei verschiedene Richtungen gesehen:
Fall 1: Ein (hoher) Ton, dessen Wellenlänge λ genau so groß ist wie r
Fall 2: Ein (mittlerer) Ton, dessen Wellenlänge λ doppelt so groß ist wie r
Fall 3: Ein (tiefer) Ton, dessen Wellenlänge λ sehr groß ist im Vergleich zu r
Die Grafiken zeigen - aus gewisser Entfernung betrachtet - die Interaktion zwischen dem Schall von Vorder- und Rückseite der Membran: bei Fall 0 in der Ebene der Membran und bei Fall 1-3 für drei verschiedene Tonhöhen senkrecht zur Membranebene in Richtung Hörplatz. Überdruck ist jeweils rot dargestellt, Unterdruck blau.
Fall 0: Bei Schallwellen, die in der Ebene der Membran laufen, stehen sich - entsprechend Ihrer Entstehung - immer gleiche Überdruck- und Unterdruckwerte gegenüber. Diese löschen sich gegenseitig aus, sobald sie nicht mehr durch den Lautsprecher voneinander getrennt werden. Das trifft für jede beliebige Wellenlänge zu.
Fall 1: Wie verhält sich eine Welle, die sich senkrecht zur Membran Richtung Hörplatz ausbreitet? Der Schall von der Vorderseite der Membran gelangt, wie bei jedem anderen Lautsprecher auch, direkt zum Ohr. Der Schall von der Rückseite muss erst zum Rand des Chassis wandern, bevor er sich auch in Richtung Hörer ausbreiten kann. Wenn dieser Weg r = λ ist, wird der Schall von der Rückseite um genau eine Wellenlänge verzögert, bevor er parallel zum Schall von der Vorderseite Richtung Hörer wandert. Das heißt: Auch hier stehen sich gleiche Überdruck- und Unterdruckwerte gegenüber und löschen sich in Richtung Ohr gegenseitig aus. Es entsteht ein Schalldruckminimum.
Fall 2: Ist die Wellenlänge λ doppelt so groß wie r, dann wird der Schall von der Rückseite um eine halbe Wellenlänge verzögert, bevor er parallel zum Schall von der Vorderseite Richtung Hörer wandert. Auf dem Weg Richtung Hörer steht dann jedem Überdruckwert von der Frontseite der Membran ein Überdruckwert von der Rückseite der Membran gegenüber. Gleiches gilt für die Unterdruckwerte. Beide Komponenten addieren sich. Es entsteht ein Schalldruckmaximum.
Fall 3: Wenn die Wellenlänge λ sehr groß wird im Vergleich zu r, dann wird der Schall von der Membranrückseite immer weniger gegenüber dem Schall von der Membranvorderseite verzögert. Wie in Fall 1 stehen sich auf dem Weg in Richtung Ohr gleiche Überdruck- und Unterdruckwerte gegenüber und löschen sich gegenseitig aus. Es entsteht ein stetiger Schalldruckabfall mit 6 dB pro Oktave von Schalldruckmaximum 1 in Richtung niedrigerer Töne.
Abb. 1.5: Auslöschung von vorder- und rückseitigem Schall für Membranradius r « λ. Überdruck (rot), Unterdruck (blau)
Der Wechsel zwischen Fall 1 und Fall 2 wiederholt sich zu höheren Frequenzen immer wieder:
Der Frequenzgang für das Lautsprecherchassis besteht dann aus einem gleichmäßigen Anstieg bis zum Schalldruckmaximum 1 und einer darauf folgenden - immer dichter werdenden - Abfolge von Minima und Maxima.
Obige Darstellung mit Edge beruht auf einem vereinfachten Geometriemodell. Vollständigere Berechnungen von Mellow und Kärkkäinen zeigen für zwei Punktquellen auf einer Kreisscheibe im Vergleich dieses Ergebnis. Es entspricht auch besser den Messungen:
Abb. 1.7: Frequenzgang für Punktquellen auf Kreisscheibe nach Mellow und Kärkkäinen
Wie diese abwechselnden Verstärkungen und Auslöschungen entstehen, zeigt diese Simulation sehr schön. Stellen Sie einfach beide Wellenlängen auf gleiche Werte ein und ändern Sie dann eine der Phasen von 0° bis 360°. Sie sehen, wie sich die Summe (blaue Kurve) von maximaler Addition über einen Nullwert bis zur nächsten maximalen Addition verändert. |
In den Winkelbereichen zwischen Lautsprecherachse (senkrecht zur Membran) und der Ebene der Lautsprechermembran ändert sich der Schalldruck. Da sich Schall von der (angenommenen) punktförmigen Schallquelle radial in alle Richtungen ausbreitet, gelten die Ergebnisse entsprechend in alle Raumrichtungen.
Ohne die seitliche Auslöschung (Fall 0) würde von unserem Lautsprecher z. B. ein Überdruckgebiet (+) halbkugelförmig nach vorn abstrahlen, während sich gleichzeitig ein Unterdruckgebiet (-) halbkugelförmig nach hinten ausbreitet. Die seitliche Auslöschung entfernt gewissermaßen den Schall entlang der Membranebene. Im Endeffekt ergibt sich eine Abstrahlung in den Raum nach folgendem Muster:
Diese typische Abstrahlung in Form einer liegenden 8 mit gegensätzlichem Vorzeichen hat den Di-Polen (=zwei Pole) ihren Namen gegeben
Die Form dieser "8" ist keineswegs immer gleich. Sie verändert sich mit der Frequenz sowie dem Verhältnis von Membran- zu Schallwandgröße. Dazu betrachten wir eine Lautsprechermembran mit dem Radius "a" in einer kreisförmigen Offenen Schallwand mit dem Radius b=2a. Es geht jetzt also um flächige Schallquellen. Der Frequenzgang unterscheidet sich bereits von dem für zwei Punktquellen auf Kreisscheibe in Abb. 1.7:
Gekennzeichnet sind die Stellen des ersten Dipolmaximum bei ka=1 (grün), des ersten Dipolminimum bei ka=3 (blau) sowie eine weitere Stelle bei ka=5 (rot). Zu diesen Frequenzen gehören diese Abstrahlverhalten (Polardiagramme):
Bis zum Dipolmaximum zeigt der Dipol das gewünschte Verhalten (grün) zu den Seiten: Höchster Schalldruck bei 0°, der gleichmäßig zu den Seiten abnimmt. Über ka=1 nimmt der Schalldruck zu den Seiten zu - vor allem in Richtung der möglichen ersten Reflexionen an den Seitenwänden. Dieses Verhalten (blau) ist unerwünscht. Jenseits des Dipolminimum (ka=3) bricht der seitliche Schalldruck ein - vor allem um 30-45°. Auch so ein Verhalten (rot, ka=5) ist nicht optimal.
Was bedeutet "ka"? "k" ist gleich 2*π/λ. Es ist also eine andere Aufteilung/Darstellung der Frequenzskala. "a" ist der Radius der Membran. k*a ist damit eine auf einen bestimmten Membranradius normierte Frequenzskala. Ich verwende diese Darstellung nur, weil sie von Mellow und Kärkkäinen in ihren Diagrammen eingesetzt wird. Wichtig ist nicht, bei welchen Frequenzen die jeweiligen Dipolmaxima und -minima auftauchen. Das würde sich mit anderen Werten für "a" und "b" schnell ändern. Wichtig ist nur der Zusammenhang zwischen den ka-Werten und den dazu gehörenden Polardiagrammen. |
Was passiert, wenn wir die (kreisförmige) offene Schallwand immer größer machen im Verhältnis zur Membrangröße? Dipolmaximum und -minimum wandern zu tieferen Frequenzen und das Minimum wird immer tiefer:
Die tiefen Einbrüche auf Achse bei höheren Frequenzen lassen sich durch geschickte Platzierung des Chassis auf der Schallwand weitgehend vermeiden. Davon handelt das nächste Kapitel. Nicht korrigierbar ist das Aufblähen der Dipol-8 nach schräg vorn und hinten:
Bei ka=π/2 (entspricht etwa ka=1,57) zeigt die Schallwand mit dem doppelten Membrandurchmesser als Breite immer noch ein ausgewogenes Polardiagramm (grün). Eine Schallwand mit dem vierfachen Membrandurchmesser als Breite hat dort eine tiefe Schalldrucksenke auf Achse, kombiniert mit sehr breitem Abstrahlen in Richtung 45-60° (rot).
Wie Kap. 1.2 gezeigt hat, besteht jeder Dipol aus zwei Einzelquellen, deren Distanz zum Ohr sich durch eine gewisse "Dipollänge" unterscheidet. Diese Dipollänge kann auf verschiedene Weise zustande kommen. Wichtig ist: Es zählt nicht der geometrische Abstand der Schallquellen, sondern der Wegunterschied (die Differenz zwischen rot und grün, im Folgenden blau markiert), den beide Schallquellen vom Ohr haben:
Abb. 1.13: Zwei Einzellautsprecher mit entgegengesetzter Phase
Abb. 1.14: Offene Schallwand
Abb. 1.15: Hochtöner gegeneinandergesetzt
Abb. 1.16: H-Frame
Wichtig ist außerdem, dass diese Dipollänge bei einer Drehung des Dipols um 90° nicht mehr zum Tragen kommt - also keine Differenz mehr zwischen rot und grün entsteht:
Abb. 1.17: Zwei Einzellautsprecher mit entgegengesetzter Phase
Abb. 1.18: Offene Schallwand
Abb. 1.19: Hochtöner gegeneinandergesetzt
Abb. 1.20: H-Frame