Die Partnerschaft zwischen Lautsprecher und Offener Schallwand folgt den Regeln des menschlichen Zusammenlebens: Prinzipiell geht alles, aber manche Paarungen vertragen sich deutlich besser und einfacher als andere. Und praktisch aussichtslos wird es, wenn einer der beiden Partner auf Dauer überfordert wird. In Kap. 4 und 5 haben wir bereits gesehen, dass eine kleine Schallwand zum Beispiel keinen beliebig tiefen Bass unterstützen kann. Ähnlich sollte auch beim Lautsprecherchassis darauf geachtet werden, dass es die erforderlichen Qualitäten mitbringt.
Wie groß muss mein Dipol-(Bass)-Chassis sein? Das ist eine der meistgestellten Fragen beim Dipol-DIY. Sie ist schwer zu beantworten, denn unterschiedliche Personen erwarten auch unterschiedliche Lautstärken von ihren Dipolen. Der eine hört vielleicht nur akustische Musik auf kurze Distanz bei angepasster Lautstärke, der andere will Partys in seinem großen Wohnzimmer beschallen. Dazwischen liegt ohne weiteres ein Leistungsunterschied von 1:100.
Wichtigstes Kriterium für die erreichbare Lautstärke ist das Verschiebevolumen Vd des Chassis. Vd ist das Produkt aus Membranfläche Sd und maximaler (linearer) Auslenkung Xmax. Linkwitz hat ein Excel-Spreadsheet aufgebaut, mit dem sich aus den Lautsprecherdaten und der Schallwandgröße der maximal erreichbare Schalldruck und die dafür erforderliche Verstärkerleistung berechnen lassen.
Extrem vereinfachend gebe ich hier nur zwei Grenzwerte vor: Das minimale erfolgreich am Markt vertriebene Dipolbass-Verschiebevolumen bietet die Nobox 170 von Visaton mit 200 cm³. Für viele völlig ausreichend sind anscheinend zwei 15"-Tieftöner oder zwei 10"-Tieftöner mit großer Auslenkung. Zum Beispiel zwei Eminence Alpha 15A mit zusammen 650 cm³ oder zwei Peerless SLS 10 mit zusammen 575 cm³.
Es kann davon ausgegangen werden, dass für praktisch jeden Lautsprecher in Offener Schallwand die mechanische Belastungsgrenze weit vor der elektrischen erreicht wird. Dass dynamische Dipolstrahler besonders hohe Verstärkerleistungen benötigen, ist ein Gerücht, dass sich wahrscheinlich aus früheren Erfahrungen mit elektrostatischen Flächenwandlern nährt.
Fast jeder Lautsprecher hat einen - halbwegs - linearen Übertragungsbereich, an dessen oberem und unterem Ende der Schalldruck abfällt. Und praktisch jedes Lautsprechergehäuse dient dazu, den Schalldruckabfall am unteren Ende so weit wie möglich zu kompensieren und zu kontrollieren.
Das Maß für den Schalldruckabfall eines Lautsprecherchassis zu tiefen Frequenzen ist die "Güte" Qts. Sie gibt an, um wie viel der Schalldruck bei der Resonanzfrequenz fs unter dem linearen Bereich liegt. Bei Qts = 0,5 wäre das also die Hälfte (entsprechend - 6 dB). Bei Qts > 1 zeigt das Chassis sogar eine Überhöhung an der Resonanzfrequenz.
Der Tiefton-Frequenzgang eines Chassis in Offener Schallwand wird dann im wesentlichen vom Dipolabfall der Schallwand und der Güte des Chassis bestimmt. Es ist offensichtlich, dass ein hohes Qts tendenziell mehr Bass zulässt. Bei Qts > 1 kann die Schallwand sogar bewusst so klein gehalten werden, dass sie den "Resonanzbuckel" gerade ausgleicht. Andererseits kann aber auch die größte Schallwand den linearen Bereich nur wenig unter fs erweitern. Immerhin: Die geschickte Kombination von passendem Qts, geeigneter Schallwand und Ausnutzung von Wandreflektionen ermöglicht einen linearen Betrieb bis an fs ohne jede elektrische Kompensation:
Ein Chassis in unendlicher Schallwand braucht einen bestimmten Hub, um bei z. B. 80 Hz einen bestimmten Schalldruck zu erzeugen. Für den gleichen Schalldruck bei 40 Hz (eine Oktave tiefer) braucht das Chassis den 4-fachen Hub. Dieses Verhalten gilt für alle Tiefton-Chassis mit einer Resonanzfrequenz < 40 Hz. Beim Wechsel von der unendlichen Schallwand zu üblichen Dipol-Schallwandgrößen kommt der Schalldruckabfall des Dipols von 6 dB/Oktave dazu. Das entspricht einer weiteren Verdopplung des Hubs, wenn der Schalldruck bis 40 Hz linear bleiben soll. In Summe muss sich der Hub also verachtfachen!
Das zeigt, wie extrem wichtig die Wahl der unteren Grenzfrequenz ist, um schädliche Hübe zu vermeiden. Auf keinen Fall sollte man versuchen, die Basstreiber unter ihre (Einbau-) Resonanzfrequenz zu entzerren.
Ich hatte mich bisher gesträubt, hier explizite Konstruktionsanleitungen zu geben - außer in den "Beispielen". Ich sehe aber aus Anfragen, die mich erreichen, dass gewisse Größenangaben als Orientierungshilfe notwendig sind. Die folgenden Dimensionierungs-Vorschläge sind nicht alle von mir selbst erprobt worden. Sie basieren auch auf den Erfahrungen anderer. Und natürlich gibt es jederzeit Beispiele, wie es jemand ganz anders gemacht hat …
Einweg-Dipol
Die "Große Schallwand" ist für manche das Ideal, für mich ist sie eine Notlösung. Sinnvoll sind Breitbandchassis ab 25 cm Durchmesser mit hohem Qts wie Ciare CH 250, Sica LP 266, Audi Nirvana Super 12 oder Eminence Beta 12LT. Erforderlich sind Schallwandbreiten, die auch noch 100 Hz "tragen" können. Trotzdem ist mindestens irgendein Subwoofer unter ~100 Hz als Unterstützung sinnvoll, damit es nicht allzu schwachbrüstig klingt.
Zweiweg-Dipol
Im Bass gilt das Verschiebevolumen ab 200 cm³ aufwärts, wie in Abschnitt 7.1 beschrieben - gern auch auf zwei oder mehr Chassis verteilt. Die Trennfrequenz liegt bei 300-500 Hz. Wenn man bei 500 Hz trennt, reichen für den Mittel- und Hochton 10-12 cm Breitbänder in Schallwänden oder 15-17 cm Breitbänder ohne Schallwand. Da die Resonanzfrequenz solcher Breitbänder unter 100 Hz liegt, muss auf Qts nicht besonders geachtet werden. Außerdem kann die Schallwandbreite den Frequenzbereichen angepasst werden. Echte Dipolabstrahlung im Hochton wird - wie beim Einweg-Dipol - nicht erreicht.
Dreiweg-Dipol
Die Anforderungen an Bass- und Mittelton unterscheiden sich kaum vom Zweiweger. Tendenziell wird der Mitteltöner größer und die Trennung zum Tiefton tiefer. Die Trennung zum Hochton sollte bei 1,5 bis 2,5 kHz erfolgen. Als Hochtöner kommen kleinste Konuschassis (5 cm) und Magnetostaten wie B&G Neo3 oder kleine AMTs in Frage. Gegeneinander angeordnete Kalottenhochtöner benötigen geeignete Schallführungen, da sie sonst an der Übergangsfrequenz zu breit abstrahlen.
Vierweg-Dipol
Es kommt nicht von ungefähr, dass die akustisch besten Vierweg-Dipol-Konstruktionen fast identische Treibergrößen und Übergangsfrequenzen haben. Das ist nicht "Abkupfern", sondern ergibt sich aus den physikalischen Anforderungen an "ideale" Dipole, aus den derzeitigen technischen Möglichkeiten des Chassisbaus und aus einer rationalen Kosten/Nutzen-Kalkulation. Verwendet werden langhubige 25 cm Chassis (paarweise) im Bass bis 110/120 Hz und 22 cm Chassis für den unteren Mittelton bis 1 kHz. Der obere Mittelton kommt aus 10 cm Konuschassis bis 6/7 kHz. Den Super-Hochton liefern paarweise montierte 2,0/2,5 cm Kalottenhochtöner, die nur oberhalb ihrer Bündelungsfrequenz eingesetzt werden.
Alle bisherigen Betrachtungen gingen davon aus, dass das im Dipol eingesetzte Lautsprecherchassis nach vorn und hinten identisch abstrahlt. Das ist aber für die meisten Korblautsprecher unrealistisch: Die Strukturen von Korb und Magnet bilden nach hinten ein akustisches Filter, das den Frequenzgang verzerrt. Und von hohen Frequenzen, die evtl. nur noch von den innersten Bereichen der Membran abgestrahlt werden, kommt überhaupt kein signifikanter Beitrag mehr an der Lautsprecherrückseite an. Die Auswirkungen sind bei Linkwitz dokumentiert:
Abb. 7.2: Dieser 22 cm-Tieftöner zeigt ab 1500 Hz deutliche Lautstärkeunterschiede zwischen Vorder- und Rückseite der Membran. Spätestens ab 3000 Hz ist kein regulärer Dipoleffekt mehr wirksam.
Timmermanns weist für den Ciare HX 132 in seiner Offenen Schallwand "Open Source" ein ähnliches Verhalten nach:
Ähnliches misst auch Gerd Lommersum für den Vifa 10 BG 120 in seiner Dipo 1:
Zum Schluss noch eigene Messungen. Zuerst ein Peerless SLS 10 in einem H-Dipol. Messabstand ist 1 m:
Zuletzt der Monacor SPH 176 auf einer 40 cm breiten Offenen Schallwand:
Offensichtlich ist, dass nach hinten geschlossene Konstruktionen wie Kalotten- oder Hornlautsprecher von vornherein keine Dipolwirkung haben können.